UMA UND IHRE LEBENSWELT

Wer ist ein/eine uma?

 

Als unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) werden Kinder und Jugendliche be­zeich­net, die in der Schweiz um die Gewährung des Asyls ersucht haben, das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, von ihren Eltern getrennt sind und von keiner erwachsenen Person be­gleitet werden, welcher die elterliche Sorge von Gesetzes wegen oder gewohnheits­recht­lich übertragen worden wäre.

 

Lebenswelt der Uma: geflüchtet und asylsuchend, unbegleitet und minderjährig, spät migriert und schulungewohnt

 

Bei UMA handelt es sich einerseits um eine heterogene Gruppe, da die Jugendlichen in verschiedenen Kul­turen sozialisiert wurden und durch unterschiedliche Wertvor­stellun­gen geprägt sind. 

Trotz der Heterogenität haben die Angehörigen dieser Zielgruppe zahlreiche Gemein­sam­keiten: Sie sind vor einer Gefahr oder Armut geflohen, sind dem Asylverfahren unterstellt, sind minderjährig und kommen ohne Begleitung der Sorgeberechtigten in die Schweiz. Diese Prä­gun­gen stecken den Rahmen ab, in welchem sich der Alltag der unbegleiteten Flücht­lings­kinder abspielt. 

 

Geflüchtet

Die Flucht stellt im Leben der Betroffenen eine dramatische Umbruchssituation dar. Es ist nicht bloss ein Ereignis, sondern es handelt sich um einen langwierigen Prozess, der bereits im Herkunftsland beginnt (Vorfluchtphase), auf dem Fluchtweg fortgesetzt wird und im Zielland weiter andauert (Nachfluchtphase). Jede Phase der Flucht prägt massge­bend den Alltag der geflüchteten Kinder und ihre Fähigkeit, Bewäl­ti­gungs­stra­tegien zu entwickeln.

Die Asylstatistik des Staatssekretariats für Migration gibt Auskunft über Herkunftsländer, aus welchen die UMA zugewandert sind. Es handelt sich um Kriegs- und Bürger­kriegs­ge­biete wie Syrien, Eritrea, Äthiopien, Sudan oder um Länder mit politischer, rassistischer und religiöser Verfolgung (Afghanistan, Somalia, Sri Lanka). Hinzu kommen Länder ohne Bürgerkrieg und Verfolgung (Algerien, Marokko, Tunesien). Sämtliche Herkunftsländer zeichnen sich durch schlechte wirtschaftliche Bedingungen, hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten aus.

Der Fluchtweg ist für die meisten Geflüchteten durch ständige Lebensgefahr ge­kenn­zeich­net. Die Minderjährigen, alleine auf der Flucht, sind schutzlos den Schleppern ausgeliefert. Sie werden häufig Opfer von Menschenhandel und zu Prostitution oder Zwangsarbeit genötigt. Gemäss einer Studie kommt es bei 33,3% von UMA auf der Flucht zu einer Traumatisierung. 8,5% der UMA erlebten vor oder auf der Flucht sexualisierte Gewalt.

 

Asylsuchend

Nach der Ankunft in der Schweiz werden Geflüchtete zuerst einem Bundesasylzentrum (BAZ) zugewiesen. Der Aufenthalt im BAZ ist für UMA belastend: Der durch strenge Hausregeln bestimmte Alltag ist nicht kinderfreundlich. Das Asylverfahren bedeutet für UMA einen Stressfaktor an sich: Belastend sind sowohl die einzelnen Verfahrensschritte (vor allem die vertiefte Befragung) als auch der unsichere Aus­gang des Asylverfahrens.

Nach dem Abschluss des Asylverfahrens oder wenn die Abklärungen des Staatssekre­ta­riats für Migration länger als 140 Tage dauern, werden die UMA einem Kanton und anschliessend einer Gemeinde zugewiesen. Die Kantons- und Gemeindezuweisung ist mit weiteren Unsicher­heiten verbunden: Wo werde ich wohnen? Wer hilft mir? Was steht mir zu? Was wird von mir erwartet? 

Aufgrund all dieser Stressoren kommt es bei Geflüchteten nach der Ankunft im Aufnahmeland in der Regel zur Verfestigung der erlebten Traumatisierungen. Die neueren Erklärungsmodelle gehen davon aus, dass nicht nur prämigratorische Erlebnisse, sondern auch der Aufenthalt im Aufnahmeland sich durch zahlreiche Stressoren auszeichnet. Dazu gehören sozioökonomische Faktoren (finanzielle Unsicher­heit, häufig das Fehlen einer angemessenen Unterbringung), soziale und interpersonelle Fak­to­ren (die Entwurzelung, Trennung von der Familie, Diskriminierungserfahrungen) und auf­ent­halts­rechtliche Faktoren (unsicheres Bleiberecht, stark eingeschränkte Mobilität). Be­son­ders die ersten Jahre der Migration stellen für die migrierende Person eine krisen­hafte Über­gangs­situation dar: Der erlebte Verlust der vertrauten Strukturen und der nahen Per­sonen schwächt die Identität und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, was Gefühle von Ein­samkeit, Trauer und Ohnmacht verursacht.

Die Fluchtmigration wird als «sequentielle Traumatisierung» bezeichnet. Die im Her­kunfts­land und auf der Reise erlebten traumatischen Erlebnisse und der Stress im Auf­nah­meland lassen eine prozesshafte traumatisierende Gesamtsituation entstehen.

Unbegleitete Kinder auf der Flucht erleben im Durchschnitt mehr traumatisierende Erlebnisse als begleitete Kinder oder erwachsene Geflüchtete. Sie müssen neben den allgemeinen mit der Flucht verbundenen Verlusterfahrungen die Trennung von den Eltern verkraften und sind in extremen Lebenssituationen auf sich allein gestellt.

 

Minderjährig 

Die meisten UMA kommen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren, also während der Adoleszenz, in die Schweiz. Als Adoleszenz wird der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter be­zeichnet. Die Adoleszenz zeichnet sich durch mannigfaltige Veränderungen aus biologischer, psychologischer und sozialer Sicht aus. Die Veränderungen, vor allem die hormonellen Um­stellungen, verursachen häufig Stresssituationen und stellen die Jugendlichen vor zahlreiche Herausforderungen. Auf jeder Stufe der Adoleszenz werden die Heranwachsenden mit der Bewältigung von unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Als Entwicklungs­aufgaben werden die ans Lebensalter gebundenen Anforderungen bezeichnet, die sich typischerweise jedem Individuum im Laufe seines Lebens stellen. Jugendliche im Alter von 13 bis 20 Jahren haben im All­gemei­nen folgende Entwicklungsaufgaben:

 

- Bewältigung schulischer Anforderungen

- Berufswahl / Berufsausbildung

- Akzeptieren von körperlichen Veränderungen und der eigenen körperlichen Erscheinung, für den ganzen Körper sorgen

- Beziehungen zu Gleichaltrigen

- Entdecken der Sexualität, Aufnahme intimer Beziehungen, sexuelle Identität

- Gestaltung der freien Zeit

- Entwicklung eines bedürfnis- und ressourcengerechten Konsumverhaltens

- Umgang mit Autoritäten: Instanzen und Personen

- Aufbau eines eigenen Wertsystems

- Individuelle Ausgestaltung der männlichen bzw. weiblichen sozialen Geschlechterrolle

- Entwicklung einer Zukunftsperspektive

- Entwicklung der eigenen Identität

- Qualität der familiären Beziehungen / emotionale Ablösung von den Eltern

- Einen eigenen Haushalt führen / Bewältigen alltäglicher Anforderungen

- Ein eigenes soziales Netz haben

 

Im Fall von UMA kommen zu den allgemeinen Entwicklungsaufgaben, die alle jungen Ado­les­­zenten meistern müssen, noch migrationsspezifische Herausforderungen hinzu. Dazu ge­hören der Erwerb der deutschen Sprache und die Entwicklung der bikulturellen Iden­ti­tät. Die Identitäts­su­che geschieht bei UMA im Span­nungs­­feld zweier Kulturen. Es findet eine Interaktion zwischen der Her­kunftskultur der Jugendlichen und der Aufnahme-gesellschaft statt. Die UMA sehen sich ge­zwun­gen, zwei verschiedene Kulturen seelisch zu integrieren. Mitgebrachte Wert­vor­stellungen, Rollen­verständnis und Verhaltens-normen werden teilweise in Frage gestellt, ohne dass die Werte der Aufnahme-gesellschaft übernommen werden können.

Die Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben ist durch die einschneidenden Trennungs- und Verlusterfahrungen zusätzlich erschwert. Die fluchtbedingten Erlebnisse und Verluste müssen in einem Trauerprozess aufgearbeitet werden können. Für diesen Prozess steht häufig kein Raum zur Verfügung. Im Gegenteil: Von den UMA wird ein rasches Voranschreiten der Inte­gration erwartet.

 

Unbegleitet

Die landesabwesenden Eltern von UMA sind ausserstande, ihren elterlichen Verpflichtungen nachzugehen. Die Jugendlichen sind im komplizierten Prozess der Identitätsentwicklung in der Fremde auf sich allein gestellt. In ihrer Identitätsentwicklung orientieren sie sich an Referenzpersonen aus der Aufnahmegesellschaft.

UMA werden mehrheitlich in Wohngruppen, sozialen Einrichtungen oder «UMA-Zentren» untergebracht. Ein kleiner Teil wohnt in Pflegefamilien oder bei Verwandten (SODK, 2016). Die Wohngruppe stellt für die meisten UMA den zentralen Ort der sozialen Kontakte dar. Die Bezugspersonen aus dem Wohnbereich nehmen dementsprechend eine wichtige Rolle ein. Viele UMA haben ausserhalb der Wohngruppe häufig nur wenig Kontakte. Deshalb ist die Beziehung zu den Betreuenden von besonderer Bedeutung. Über verschiedene Alltags­akti­vitäten und gemeinsame Gespräche entstehen vertrauensvolle Bindungen, die UMA nicht nur einen sicheren Ort, sondern auch eine «Ersatzfamilie» vermitteln.

Eine besondere Rolle wird der Schule zugeschrieben. Es ist eine zentrale Aufgabe der Schule, diesen Jugendlichen als haltgebender sozialer Raum zur Ver­fügung zu stehen, in dem ein allmählicher Übergang von der mitgebrachten kollektiv geprägten Identität zur individualisierten Identität der Aufnahmegesellschaft entstehen kann. 

UMA sind darauf angewiesen, dass die Aufgaben der abwesenden Eltern durch andere Personen übernommen werden. Für UMA ist zunächst der Kontakt zu Angehörigen ihres Kulturkreises im Aufnahmeland unabdingbar.

Falls Familienangehörige von UMA in der Schweiz leben, ist ein regelmässiger Kontakt zu ihnen von grosser Bedeutung. Familienangehörige fungieren im Unterstützungssystem von aus den kollektivistisch geprägten Gesellschaften stammenden UMA als eine wichtige Ressource.

 

Spätimigriert 

Als «spätmigriert» gelten Migrantinnen und Migranten, die im Alter zwischen 16 und 25 Jahren in die Schweiz zuwandern. Die schulische und berufliche Integration dieser Ziel­­gruppe erweist sich als eine grosse He­raus­forderung: nur wenige der spätmigrierten Ju­gend­li­­chen scha­ffen es, die berufliche Ausbildung erfolgreich abzuschliessen. In der Schweiz besteht kein gesetzlich verankerter Auftrag zur Integra­tion der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die nach dem Erreichen des Schulobligatoriums einreisen. Es ist die Sache der Kantone, geeignete Angebote für diese Zielgruppe zu schaffen. 

 

Schulungewohnt

Als schulungewohnt werden Personen bezeichnet, die entweder noch nie oder weniger als 6 Jahre eine Schule besucht haben. Die Schulungewohntheit hat schwerwiegende Konsequenzen für die Lerneffizienz: Das fehlende Vor­wissen erschwert den Lernenden das Erlernen der Sprache wesentlich. Es gilt als erwiesen, dass Vor­wissen die Effizienz des Lernens steigert: Was Lernende zu Beginn eines neuen Themas schon beherr­schen, das beeinflusst in hohem Masse den Umfang, die Qualität und die Schnelligkeit des Hinzu-Lernens. Die schulgewohnten Lernenden mit Vorwissen in Grammatik haben eine höhere Gedächtniskapazität und können sich deshalb mehr merken. Sie können besser erkennen, worauf es ankommt, und ihre selektive Aufmerksamkeit stärker auf diese Inhalte richten. Je besser die Vorkenntnisse sind, desto schneller können Lernende erkennen, welche Inhalte bedeutsam sind.

Eine weitere schwerwiegende Folge der Schulungewohntheit ist, dass die Schulungewohnten Lücken im Bereich der lernmethodischen Kompetenzen aufweisen. Sie beherrschen Lern-strategien nicht und sind nicht in der Lage, beim Spracherwerb systematisch vorzugehen. Die Schulunge­wohnten können sich beim Spracherwerb nicht auf Lernstrategien abstützen, was ihre Lerneffizienz und ihre Selbständigkeit beim Lernen massiv beeinträchtigt. 

 

Begleitung von UMA 

Je besser es ihren Bezugspersonen gelingt, zu verstehen, welche Faktoren die Lebenswelt der UMA konstituieren und welche Be­dürf­nisse unbegleitete Flüchtlingskinder haben, desto besser gelingt es, sie bedürfnisgerecht zu fördern und eine gelingende Entwicklung sicherzustellen.